Der Tatort Espenfeld heute vor 74 Jahren – Am 13. April 1945 entdeckten amerikanische Einheiten in einem zugeschütteten Graben neben dem Zeltlager Espenfeld ein Massengrab. Sie fanden während der Exhumierung insgesamt 59 ermordete Häftlinge und legten diese an der Seite des Grabens ab. Viele Leichen waren nicht mehr vollständig und Identifikationsversuche nicht möglich. Die Leichen wurden offiziell vom Major Frank M. Gleason, Militäranwalt bei der 89. Infanterie Division, und Major Toole, Tec 4 Uhl und Tec 4 Edwin B. Fuller zusammen mit dem Zivilist Paul F. Zimmermann gezählt. Alle haben sich zum Zwecke der Identifizierung mit ablichten lassen, um gleichzeitig als Zeugen für diese Gräueltaten zur Verfügung zu stehen. Herr Zimmermann gab vermutlich zuvor die Hinweise auf das Massengrab. Insgesamt wurden 18 Fotos des „US Army Signal Corps“ und auch ein Film unter der Bezeichnung „Arnstadt Concentration Camp“ angefertigt. Dieser Film wurde zum Nürnberger Prozess ebenso wie die Aufnahmen aus dem Nordlager in Ohrdruf in Auszügen gezeigt. Dadurch sind diese Kriegsendphasenverbrechen auch untrennbar mit in der Nähe befindlichen Stadt Arnstadt verbunden. Kurz nach Ende des Krieges legte man gegenüber dem ehemaligen Zeltlager auf Anweisung der Amerikaner einen Ehrenfriedhof an, der noch heute erhalten ist und als Denkmal Espenfeld bekannt ist.
Das Lager Espenfeld wurde innerhalb des Lagerkomplexes S III als das Zeltlager bezeichnet. Der Aufbau erfolgte vermutlich Ende Januar/ Anfang Februar 1945. Ein erster Eintrag im Totenbuch des Nordlagers findet sich für das Zeltlager für den 21. Februar 1945. Das Lager glich am Ende des Krieges einer kleinen Zeltstadt aus sechs großen Zelten als provisorisches Häftlingslager. Die Bewachung des Lagers erfolgte überwiegend durch ukrainische SS-Angehörige, denen bis zu 25 Wachhunde zur Verfügung standen. Vermutlich vor Beginn des Todesmarsches wurden unter anderem marschunfähige Häftlinge erschossen und im nahegelegenen Graben und weiteren Gruben eilig verscharrt. Es sollten möglichst wenig Spuren übrigbleiben. Auf weiteren Fotos ist zu erkennen, dass deutsche Zivilisten gezwungen wurden, die ermordeten Häftlinge umgehend zu exhumieren. Zwei Tage nach Einstellung der Kampfhandlungen in diesem Gebiet gab es also anscheinend nichts Wichtigeres zu tun und so wurden die barbarischen Spuren freigelegt und akribisch dokumentiert. Dies finde ich persönlich sehr beachtenswert.
Am 13. Mai 1945 erfolgte auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung im Walde zwischen Arnstadt und Espenfeld die Umbettung der Opfer von S III in Einzelgräber. Dazu wurden etwa 200 in Arnstadt festgenommene NSDAP-Mitglieder verhaftet beziehungsweise zwangsverpflichtet. Unterschiedliche Opferzahlen sind dafür im Umlauf. Realistisch ist zum damaligen Zeitpunkt die Zahl von insgesamt 96 ehemaligen Häftlingen, weil nach dem 13. April 1945 in der Umgebung immer wieder weitere Leichen gefunden oder die Häftlingsleichen aus anderen Gräbern vermutlich zentral nach Espenfeld umgebettet wurden.
Am 1. Juni 1945 schrieb der Landrat des Kreises Arnstadt an den Oberbürgermeister: „Auf Anordnung der Militärregierung soll der bei Espenfeld neu angelegte Friedhof sofort eine Einfriedung aus Holz erhalten. [...] (Waldlattenzaun)“. Am 28. Januar 1946 erfolgte eine Meldung der Bürgermeister von Gossel und Espenfeld an das Landratsamt, in dem für den Ehrenfriedhof von 100 Gräbern für die Opfer gesprochen wurde, deren Nationalität nicht feststellbar war. Die Gräber wurden im Vorjahr aufgefüllt, mit einer Umzäunung sowie mit Kreuzen ohne Beschriftung versehen. Im Jahr 1951 erfolgte die Meldung an den Kreisrat des Landkreises Arnstadt, dass es sich beim Ehrenfriedhof um 106 Gräber handelte. Nach weiteren vorliegenden Dokumenten und Aussagen wurden später noch einmal tote Häftlinge in benachbarten Steinbrüchen an der Straße oder in Löchern gefunden. Am 9. Februar 1952 wurden die Überreste weiterer acht ehemaliger Häftlinge auf dem Ehrenfriedhof in Espenfeld beigesetzt. Diese wurden Tage zuvor in der Nähe von Siegelbach aufgefunden. Die bisher bekannte Zahl von 107 unbekannten Häftlingen in Einzel- und Gemeinschaftsgräbern auf dem Ehrenfriedhof und letzten Ruhestätte könnte daher noch ungenau sein. Am Ortsausgang von Crawinkel in Richtung Ohrdruf, wo heute Pferdeställe stehen, soll sich gleich nach dem Krieg ein Obelisk an einem Grab für tote Häftlinge befunden haben. Das Denkmal wurde aber durch die Sowjets nach kurzer Zeit wieder entfernt und die Toten exhumiert und vermutlich nach Espenfeld umgebettet. Diese Arbeiten mussten ebenfalls Nazis aus Crawinkel durchführen.
In Espenfeld befand sich zu DDR Zeiten das erste Dokumentationszentrum zum Jonastal und S III unter der Bezeichnung „Mahn- und Gedenkstätte des antifaschistischen Widerstandskampfes - Gedenkstätte Espenfeld“. Der Auftraggeber für die Errichtung war der Rat des Kreises, die SED- sowie die FDJ-Kreisleitung. Am 15. April 1975 beschloss die Kreisleitung der SED die Schaffung einer Gedenkstätte zur Würdigung des antifaschistischen Widerstandskampfes im ehemaligen Außenlager des KZ Buchenwald – S III. Projektant war der Ingenieur Gerhard Münch aus Arnstadt. Seine Planungsunterlagen, Gebäudepläne, Schnitte und Grundrisse stammen vom Juni 1975. Als Gebäude diente die ehemalige Dorfschule und späterer Kindergarten. Am 20. Juni 1977 wurde die Gedenkstätte der Öffentlichkeit feierlich übergeben. Hauptzielgruppe waren vor allem Schüler und Jugendliche, für die ein Besuch und die Beschäftigung mit S III in den Lehrplan integriert wurde. Der Rat des Kreises Arnstadt, Abteilung Volksbildung, gab dafür auch eine Broschüre mit methodischen Hinweisen für Lehrer heraus. So vergaben die Schulen des Kreises Arnstadt auch in den siebziger Jahren und darüber hinaus Forschungsaufträge an Schülergruppen. Nach der politischen Wende im Herbst 1989 sollte die kleine Mahn- und Gedenkstätte in Espenfeld plötzlich geschlossen werden. In einer Beratung über die Gedenkstätte wurde am 8. August 1990 festgestellt, dass diese derzeit schlecht besucht wird, sie sehr abgelegen und schlecht ausgeschildert sei und außerdem kein historisches Gebäude von S III war. Zudem wurde kritisiert, dass sie zu DDR-Zeiten meist nur zum Besuch der Schüler zur Vorbereitung auf die Jugendweihe genutzt wurde und die Ausstellung dringend neu konzipiert werden müsste. In der Folgezeit kam es zu sehr kontroversen Auseinandersetzungen über die Zukunft der Gedenkstätte. Mit der Begründung, die Gedenkstätte sei eine „Kultstätte der SED/PDS“, wurde diese geschlossen. Während der Sitzungen des Kulturamts der Kreisverwaltung Arnstadt zum Thema wurde zwar Übereinstimmung erzielt, dass es notwendig ist, die Geschichte aufzuarbeiten und richtig darzustellen [...]“, doch diese Einigung rettete der Gedenkstätte nicht das Überleben. So kam es, dass Mängel zwar aufgedeckt, jedoch leider nur durch die Schließung der Gedenkstätte „beseitigt“ wurden. In diesem Zeitraum kam es übrigens auch zum Diebstahl der Bronzetafeln am Denkmal im Jonastal. An solchen Taten zeigte sich der neue Umgang nach der Wende mit der Erinnerung und dem Gedenken sowie dem Erkennen des reinen Materialwertes solcher Tafeln. Wollte man ein Stück „Geschichte“ tilgen oder auf kriminelle Weise zu Geld kommen oder beides? Ich bin nur froh, dass sich damals niemand mit der Idee durchsetzen wollte, aus gleichem Anlass die Gedenkstätte Buchenwald zu schließen.
Aus meiner persönlichen Sicht ist es Zeit für den Aufbau eines Dokumentationszentrums direkt am historischen Ort im Jonastal, das mit modernen Ausstellungen mithalten kann. Die Massengräber und Denkmäler auf dem Standortübungsplatz müssen zukünftig frei zugänglich werden. Bestandteil des Dokumentationszentrum müssen Teile des unterirdischen Stollensystems werden, die sich für eine potentielle Begehbarkeit und sicheren Zugang für Besuchergruppen eignen. Dadurch würde die Authentizität erheblich gestärkt, wie es allgemein bei historischen Gebäuden üblich ist. Zudem müssen Angehörige direkten Zugang für ihre Trauer und Interessierte zu Informationen erhalten. Weitere Thüringer Orte mit einer ähnlichen Geschichte müssen zukünftig miteinander vernetzt und gemeinsam weiterentwickelt werden. Vor Ort braucht es qualifiziertes Personal, das eine fundierte museumspädagogische Arbeit leisten kann.
Eine vollständige Übersicht zu den Häftlingszahlen und Opfern von S III muss ich an diese Stelle schuldig bleiben. Mit der kleinen Reihe „Der Tatort heute vor 74 Jahren“ konnte ich meiner Ansicht nach eindrucksvoll beweisen, dass sich der Tatort S III nicht nur auf das Jonastal und auch nicht nur auf Thüringen beschränken lässt. Die Vielzahl der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Umstände zum Kriegsende lassen keine genaueren Angaben zu. Im Zeitraum vom 6. November 1944 bis Ende März 1945 wurden rund 20.000 Häftlinge nach S III verschleppt. Ja – es gibt viel größere Angaben anderer Autoren. Diese sind aber nach derzeitigem Kenntnisstand absolut unrealistisch. Als direkt in den Teillagern verstorben sind zirka 3.000 Häftlinge in den Totenbüchern von S III verzeichnet. Ein weiterer wichtiger Umstand wurde in der vorliegenden Reihe nicht zusätzlich beleuchtet. Man muss aber unbedingt beachten, dass von S III wieder zahlreiche so genannte „Invaliden Transporte“ in andere Häftlingslager abgingen. Man muss sich vorstellen, dass Häftlinge, die nicht mehr arbeitsfähig oder nicht durch Schonung wieder in kürzester Zeit hätten arbeitsfähig gemacht werden können, abgeschoben wurden. So fand ich einige Opfer von S III zum Beispiel im KZ Bergen-Belsen wieder, die das dortige Lager nicht mehr lebend erreichten oder kurze Zeit nach der Ankunft dort verstarben. Die Summe der so verschleppten S III Häftlinge beträgt zirka 6.000, die zumindest den Bereich von S III lebend verlassen hatten. Ebenso müssen die Opfer der S III Todesmärsche nach Buchenwald sowie die S III Opfer durch die Evakuierung des Stammlagers Buchenwald dazugerechnet werden. Ich nehme dazu eine Opferrate von 40 % der Häftlinge an, die S III lebend verlassen haben. Daher kommen zu den nachweisbaren 3.000 Toten noch einmal rund 7.000 weitere hinzu. Allein für die Todesmärsche und „Evakuierungszüge“ von Buchenwald mit 38.000 Häftlingen wird eine Todesrate zwischen 12.000 (32 %) und 15.000 (39%) Menschen geschätzt. Ich befürchte aber, dass meine Schätzung noch zu vorsichtig ist und mehr als 50% der 20.000 S III Häftlinge dieses mörderische und zum Kriegsende sinnlose Bauvorhaben im Jonastal leider nicht überlebt haben.
Die ehemaligen Lagerbereiche von S III und die Stollen sind heute weitestgehend vergessen oder nicht zugänglich. Die dort stattgefundenen Kriegsendphasenverbrechen wurden nicht aufgeklärt. Verantwortliche wurden nicht oder nur im geringen Maße zur Rechenschaft gezogen. S III bildet daher eine Lücke bei der Aufklärung des NS-Lagersystems im Dritten Reich. Gleichzeitig steigen die Geschäfte mit Schatzsuchern und Revisionisten, denen immer wieder neue Schatzkarten, Gerüchte und falsche Spuren verkauft werden. Zum Abschluss möchte ich daher die Rede von Christoph Matschie, ehemaliger Thüringer Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur, vom 11. April 2010 über die Bedeutung der Gedenkstätte Buchenwald aufgreifen und für diese Stellungnahme erweitern. Auch die Häftlingslager Ohrdruf, Crawinkel und Espenfeld dürfen niemals schweigen. Nie dürfen wir vergessen, was Menschen hier in Deutschland anderen Menschen angetan haben. Dazu brauchen wir die authentischen Stimmen der Erinnerung, die Stimmen der Überlebenden. Und wir brauchen diejenigen, die diese Erinnerung verantwortungs- und selbstbewusst weitertragen in die nächsten Generationen zur Förderung eines historischen Bewusstseins. Nur mit der wachen Erinnerung an die Unmenschlichkeit dieser Orte können wir das Vermächtnis der Opfer erfüllen, das da heißt: NIE WIEDER! Das ist keine Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung. Der Kampf gegen das Vergessen und der Einsatz für Menschlichkeit gehört in die Gegenwart.
Klaus-Peter Schambach