Volkstrauertag - Zum stillen Gedenken der Kriegstoten und Opfer der Gewaltbereitschaft und Gewaltherrschaft aller Nationen. Unsere Verantwortung gilt dem dauerhaften Frieden und einer starken Demokratie. In diesem Zusammenhang ist ein Umdenken bei der aktuellen Erinnerungskultur zwingend notwendig.
Offener Brief – Erinnerungskultur in Not
von Markus Gleichmann und Klaus-Peter Schambach
(veröffentlicht in Geheimnis Jonastal, Ausgabe Nr. 19/ 2019)
Vor 74 Jahren wurde unser Thüringen von amerikanischen Truppen befreit. Erstmals sahen die Westalliierten die Gräueltaten der Nationalsozialisten im Konzentrationslager S III Ohrdruf, später in Buchenwald und Mittelbau-Dora. In Thüringen fanden sie eine starke Häufung von Rüstungsfabriken und Forschungseinrichtungen vor, die in den letzten beiden Kriegsjahren aus den verschiedensten Stellen des Deutschen Reiches verlagert wurden, zu vielen Teilen auch unterirdisch. Mit dem Walpersberg bei Kahla befand sich eines der größten unterirdischen Rüstungsprojekte des gesamten Reiches mit einer Anzahl von 15.000 ausländischen Zwangsarbeitern und 5.000 zivilen Beschäftigten in Thüringen.
Anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum 74. Jahrestag der Befreiung standen die Überlebenden, deren Angehörige und die Öffentlichkeit immer noch vor unscheinbaren Denkmälern und geschlossenen Stollen. Die dunklen Seiten der Thüringer Geschichte sind dadurch der Öffentlichkeit und Forschung weiterhin nicht zugänglich.
Trotz der vielfältigen Aktivitäten des Jonastalvereins und des Geschichts- und Forschungsverein Walpersberg e.V. ist es immer noch nicht gelungen, die Aufarbeitung dieser beiden historischen Orte des NS-Terrors in eine wissenschaftlich und sozial fundierte Gedenk- und Erinnerungskultur zu überführen. Immer noch schwingt jedes Jahr das Damoklesschwert der Finanzierung über den beiden, rein ehrenamtlich geführten, Initiativen und Dokumentationszentren.
Gleichzeitig florieren die Geschäfte von Märchenerzählern und Schatzsuchern, die mit immer neuen Gerüchten, Fälschungen und falschen Spuren ihre Bücher und Dienstleistungen an die interessierte Öffentlichkeit bringen. Diesen Wettlauf können die beiden Vereine, welche sich einer historisch fundierten und korrekten Aufarbeitung und Vermittlung verschrieben haben, nicht gewinnen.
Das 1. Bratwurstmuseum zog in der Vergangenheit mehr Besucher an und der Umzug des Museums nach Mühlhausen sorgte für mehr Aufsehen und Aufregung als die schrecklichen Ereignisse vor unserer Haustür. Auch 74 Jahre nach dem Kriegsende stellen sich für beide Standorte viele Fragen.
• Warum stehen wir zu Gedenkveranstaltungen im Jonastal seit 1958 immer noch nur vor einer unscheinbaren Stele und verschlossenen Stollen?
• Warum gibt es auch nach 74 Jahren kein angemessenes Dokumentationszentrum direkt am Walpersberg und im Jonastal mit abgesichertem Stollenzugang für eine umfassende Aufklärung, Erinnerung und Mahnung?
• Wann werden die Massengräber und Gedenkstätten am Rande des Standortübungsplatzes Ohrdruf frei zugänglich?
• Warum wird die Geschichtsaufarbeitung in unserer Region größtenteils nur privaten Initiativen und Geschichtsvereinen mit kleinen Budgets überlassen?
Aus unserer Sicht werden die Landkreise, das Land und der Bund ihrer Verantwortung noch nicht ausreichend gerecht, Interessierten, Angehörigen von Opfern und der aktuellen Generation, gleichwertig zu anderen Dokumentationszentren in Deutschland, über die Hintergründe der Orte zu informieren und pädagogische Angebote zu ermöglichen. Ehrenamtliche Initiativen werden trotz profunden Wissens nie die Ressourcen dazu haben, diese gesellschaftliche Aufgabe auszufüllen. In den Initiativen, die auch immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung sind, werden natürlich auch Stimmen laut, die die Geschichte dann nur noch aus der Sicht der Vermarktung beurteilen. Am einfachsten funktioniert das, wenn man die nachweisbaren Fakten und vorliegende Forschungen einfach ignoriert. Übrig bleibt dann ein Dickicht aus neuen Theorien, „todsicheren“ Stellen für Schatzsucher und Erlebnisorientierten. So dient regionale Geschichte heute oft leider nur noch der Unterhaltung und kommerziellen Ausschlachtung, was aber nicht länger so bleiben muss. Die ist vermutlich einer der Hauptgründe für die aktuelle und scheinbare Resignation bei der Forschung, insbesondere auch über die Nachwirkung dieser Orte über die teils fehlende Aufarbeitung in der DDR bis heute.
Dem Leiden und der Ermordung tausender Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge wird bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und der geplante Bau einer gedeckten Führungsstelle im Bergesinneren des Jonastales und der Rüstungsproduktion der „Wunderwaffe“ Messerschmitt ME 262 im Walpersberg für die politische und militärische Führung des Dritten Reiches zum Mysterium des technologischen Fortschritts und für Wunderwaffen verklärt. Die militärischen Vorgänge auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf vor Beginn des Zweiten Weltkrieges werden ignoriert und fantastische Geschichten in die ehemaligen Stollen des Jonastals kolportiert. Gleiches gilt für die REIMAHG bei Kahla für den Bereich der Flugzeugtechnik und Kunstgutverlagerung. So kommt es, dass der Walpersberg und das Jonastal heute weit über die Grenzen von Thüringen hinaus leider einen zweifelhaften Ruhm bekamen.
In der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung, bei der die Grundlagen der wissenschaftlichen Erinnerungskultur mit Füßen getreten wird, in der Kriegsschuldleugner und Holocaust-Verharmloser Zuspruch in der Bevölkerung erlangen, leisten Projekte wie im Jonastal oder am Walpersberg einen Beitrag zum Nachdenken und zu einer umfassenderen Erinnerungskultur. Die mahnenden Stimmen von Zeitzeugen stehen uns in Zukunft leider nicht mehr zur Verfügung, um in Schulen oder bei Gedenkveranstaltungen persönlich vom Leid, Entbehrungen und dem Überlebenskampf der Zwangsarbeiter zu berichten. Wir müssen daher neue Wege beschreiten, um die Erinnerung, Mahnung und den Schwur der Buchenwald-Häftlinge wach zu halten und durch eine starke Gesellschaft diesen wie eine Fahne weitertragen. „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Durch beide Initiativen sind in den letzten Jahren auch internationale Beziehungen gewachsen. Durch Vereinsmitglieder koordiniert und organisiert bestehen Verbindungen zwischen Schulen, Verwaltungen und gesellschaftlichen Akteuren zu Regionen aus denen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter deportiert wurden. Selbst Städtepartnerschaften zur Juniville (Ohrdruf) und Castelnovo ne’Monti (Kahla) sind in der Entwicklung, im Entstehen oder schon realisiert. Hinzu kommen Schulpartnerschaften und somit ein europäischer Austausch. Gerade in Arnstadt, Crawinkel und in Kahla geschieht dies alles in einem politischen Umfeld, welches in den vergangenen Jahren durch rechte und neofaschistische Tendenzen aufgefallen ist und als „Homezone“ von Neonazis gilt.
Wir beschäftigen uns seit vielen Jahren mit dieser speziellen Geschichte Thüringens und waren in den Vereinen als Mitglieder und lange Zeit auch in leitender Verantwortung tätig. Tausende von Stunden ehrenamtlicher Arbeit für Publikationen, Projekte, Vorträge, Diskussionen, Kongresse, Vernetzungsarbeit, Pressearbeit und internationale Beziehungen haben wir gerne und mit voller Überzeugung geleistet. Aktuell sehen wir für die Geschichts- und Technologiegesellschaft Jonastal e.V. und den Geschichts- und Forschungsverein Walpersberg e.V. eine große Gefahr des Aufgebens, oder der Hingabe zum historischen Entertainment. Viele Einzelfördermaßnahmen und Projektmittel sind in die Arbeit beider Institutionen geflossen und wurden durch die Arbeit der Mitglieder zu großen Erfolgen. Eine kontinuierliche Fortführung der Arbeit, wie sie aus unserer Sicht notwendig wäre, ist aber nur mit einer institutionellen Unterstützung möglich.
Aus unserer Sicht benötigt es zwei Dokumentationszentren, die qualitativ mit modernen Ausstellungen mithalten können und die sich am direkten historischen Ort befinden. Die unterschiedlichen Voraussetzungen sind dabei zu beachten. Dem Geschichts- und Foschungsverein Walpersberg e.V. gehört ein Außengelände, welches befahrbar ist und welches durch Führungen und „normalen“ Besucherverkehr stark frequentiert ist. Der Jonastalverein hat sich in einer Museumsinsel in Arnstadt, gemeinsam mit anderen regionalen Vereinen, eingerichtet und hat keinen eigenen Grundbesitz. Bei beiden Orten gibt es Teile von unterirdischen Stollen, die sich auf Grund ihrer Lage und potentiellen Begehbarkeit für Besuchergruppen eignen würden. Wir sehen hier ein großes Potential, vor allem wenn es gelingen würde beide Orte in ihrer gemeinsamen Geschichte, aber auch in ihrer Unterschiedlichkeit darzustellen und gemeinsam zu entwickeln.
Ferner braucht es mindestens je eine qualifizierte Personalstelle, die auch eine fundierte museumspädagogische Arbeit leisten kann.
Unsere Heimat wurde vom nationalsozialistischen Regime als ein letztmögliches Rückzugsgebiet vor den alliierten Armeen vorbereitet. Grundlage waren neben der zentralen Lage, der relativen Unbetroffenheit vom Kriegsgeschehen und den geologischen Voraussetzungen vor allem die Treue der Bevölkerung zum Nationalsozialismus. In Thüringen existierten im Januar 1945 mit Buchenwald, Dora und S III drei eigenständige Konzentrationslager. Forschungseinrichtungen, Rüstungsproduktionsstätten, Führungsstellen, Ausweichquartiere und Institutionen sowie große Mengen an Antiquitäten und Werten wie Geld- und Goldvorräten wurden nach Thüringen verlagert und damit konzentriert wie in keiner anderen Region Deutschlands. Dafür wurden hunderttausende Zwangsarbeit, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge eingesetzt. Viele davon starben. Aus diesen Gegebenheiten erfolgt eine besondere Verantwortung, die Geschichte auch so darzustellen und zu vermitteln wie sie war: vor Ort und überall.
Wir bitten alle Verantwortungsträger im Bund, Land, Kreisen und Städten die Möglichkeiten zur Umsetzung der seit Jahren in Entwicklung befindlichen Einrichtungen im Rahmen des von uns geschriebenen zu unterstützen und eine Lösung zu finden, die aktuell prekäre Situation zu überwinden. Es muss einen klaren Willen zur Aufarbeitung der Geschichte des NS-Regimes geben, um diese beiden Projekte nachhaltig umzusetzen.