
Der Tatort Muna Crawinkel heute vor 74 Jahren - Der Waffenstillstandswaggon von Compiègne ging nach vorliegenden Zeugenaussagen um den 12. April 1945 Großteiles in Flammen auf. Am gleichen Tag brannten auch Baracken in der Muna nicht weit entfernt vom letzten Versteck des Waggons. Er wurde vermutlich aufgrund der Angriffswellen auf Crawinkel auf ein sichereres Abstellgleis zwischen Crawinkel und Ohrdruf an den Rand der Muna verlagert.
Die Geschichte der Luftmunitionsanstalt (LMuna – umgangssprachlich nur Muna genannt) verbirgt mehrere schreckliche Geheimnisse. Hier wurde unteranderem Mitte Januar 1945 gegen Kriegsende eines der Außenlager für das Bauvorhaben S III errichtet und nach den Erinnerungen der wenigen Überlebenden waren die Verhältnisse im Lager fast mit keinem anderen Häftlingslager vergleichbar. Sie beschrieben das Fehlen einer erfahrenen Lagerverwaltung, nicht vorhandene sanitäre Einrichtungen, mangelhafte Verpflegung, zu geringe ärztliche Versorgung und unter anderem kalte Erdbunker zur ungenügenden Unterbringung. Dazu kam die überstürzte Neugründung des Lagers ohne Vorbereitung einer ausreichenden Trink- und Abwasserversorgung. Der lange Transportweg der Arbeitskräfte von Ohrdruf zur Hauptarbeitsstelle im Jonastal wurde vermutlich wegen mangelnder Transportkapazitäten und Treibstoffen zunehmend zum Problem und führte zu immer größeren Verzögerungen des Baufortschritts. Aufgrund dessen wurden weitere Teillager für S III in Crawinkel und später Espenfeld eröffnet. So wurde der tägliche Arbeitsweg ins Jonastal erheblich verkürzt.
Die ersten, nachweisbaren Häftlingstransporte vom KZ Buchenwald nach Ohrdruf erfolgten ab 6. November 1944. Bis zum 14. November waren 508 vermutlich vorwiegend Funktions- und Bauhäftlinge zum Umbau des vorhandenen Ausbildungslagers Nord der Wehrmacht zum Häftlingslager. Seit diesem Tag gehörte das Außenkommando S III nicht mehr zum Lagerkomplex Buchenwald und wurde als weiteres, eigenständiges Konzentrationslager neben Buchenwand und Mittelbau—Dora in Thüringen geführt. Am 16. November 1944 traf in Ohrdruf ein Häftlingstransport mit 1. 000 Gefangenen aus Sachsenhausen ein, der nicht in Buchenwald als Eingang verzeichnet wurde. Dies hätte geschehen müssen, wenn Ohrdruf weiter dem Stammlager untergeordnet gewesen wäre. Bis zum 24. Dezember 1944 existierten nur ein Nord- und ein Südlager bei Ohrdruf. Erst am 15. Januar 1945 wurden die Ohrdrufer Lager mit ihren Beständen und weiteren Transporten in den Gesamtbestand des Konzentrationslagers Buchenwald zurück überführt. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine weiteren Teillager. S III galt ab da wieder als Außenkommando von Buchenwald und es erfolgte eine Restrukturierung des Lagerwesen. Das Südlager wurde mehr und mehr aufgegeben, die arbeitsfähigen Häftlinge nach Crawinkel verlagert und geschwächte, verletzte Häftlinge in das Nordlager in Krankenbaracken abgeschoben. Ursachen für den Wegfall der Eigenständigkeit von S III war die teils chaotische Lagerverwaltung und mangelnde Unterbringung und Versorgung der Häftlinge. Die dafür erfahrenen Strukturen des Stammlagers wurden in den letzten Kriegswochen wieder benötigt, damit man sich vor Ort auf die gestellten Bauaufgaben und den Zeitplan konzentrieren konnte.
Die derzeit früheste Erwähnung des Lagers C (Crawinkel) in der Muna ist mit der Aufstellung der Arbeitskommandos vom 22. und 23. Januar 1945 mit einem Lagerbestand von 1.127 Häftlingen dokumentiert. Laut den Unterlagen wurden zu diesem Zeitpunkt 36 Erdbunker mit den Nummern 26 bis 62 genutzt. Die Muna Crawinkel wurde zu diesem Zeitpunkt gerade erst bezogen, denn laut dem Totenbuch des Südlagers verstarben erste Häftlinge direkt in Crawinkel erst am 31. Januar 1945. Der tägliche Arbeitsweg und zuletzt der Todesmarsch der Häftlinge aus dem Lager C führten – entgegen bisheriger Annahmen – auch direkt durch Crawinkel über den Markt. So müssen die Einwohner dort täglich zu Augenzeugen geworden sein. Aufgrund geltender Verbote und Strafandrohung sowie durch die damals teilweise nationalsozialistische Einstellung war es schwer, weitere Informationen darüber zu sammeln. Die meisten Einwohner trauten sich nicht, den Häftlingen zu helfen beziehungsweise sich am Fenster überhaupt blicken zu lassen. Weitere Häftlingskolonnen kamen täglich mit dem Zug aus Ohrdruf am Bahnhof an und wurden jeden Abend wieder in die Viehwaggons gesperrt und zurück transportiert. Zunehmend wurde auch die Feldbahn ins Jonastal für Häftlingstransporte von Crawinkel aus zur Baustelle benutzt. Die beginnende Auflösung des Häftlingslagers Crawinkel kann aufgrund der vorliegenden Aussagen ebenfalls mit dem 3. April 1945 angenommen werden. Nachdem das Lager geräumt war, nutzten in den letzten Kriegstagen viele Einwohner aus Wölfis und Crawinkel die Möglichkeit, Lebensmittel, Kleidung und weitere Gebrauchsgegenstände aus den verlassenen Muna Gelände zu holen. Viele weitere Baumaterialien wurden nach dem Krieg meist durch Einwohner der umliegenden Orte, vor allem auch aus Crawinkel, zum Wiederaufbau der zerstörten Wohnhäuser und Scheunen genutzt. So kam es zur ersten Demontage und Plünderung.
Neben dem Stollenbau im Jonastal verlegten Häftlinge in direkter Nachbarschaft zur Muna umfangreiche Gleisanlagen im Wald zwischen Crawinkel und Luisenthal. Dazu gehörten zusätzliche Gleise für eine „Sonderzugabstellung“ sowie ein komplett neues Anschlussgleis, das fast bis zu der ersten Bunkerreihe reichte. Hier sollten vermutlich ab diesem Zeitpunkt die weiteren Häftlingstransporte aus anderen Lagern ankommen und entkräftete Arbeitskräfte in Sterbelager abgeschoben werden. Das Lager C bildete zum Kriegsende scheinbar das neue Hauptlager, nachdem das entfernte Nordlager zum Krankenrevier umfunktioniert wurde. Ausreichend Platz war in der Muna vorhanden bei ungünstigen Überlebensbedingungen in der „Hölle“ von Crawinkel, wie es Überlebende wie Fred Wander beschrieben. „Am ersten Morgen von Crawinkel sahen wir: Im Bunker lagen Russen, Juden, Franzosen, Polen. Immer zwei oder drei hatten ihre erstarrten Leiber unter eine Decke gepreßt, um sich gegenseitig zu wärmen. […] Um vier Uhr früh jagten sie uns hinaus in die Kälte. Sterne blinkten stählern hinter Wolkenfetzen hervor, Wind zauste die Fichten. Capos hetzten uns zwischen den Bunkern zum Tor: Schneller, hierher, ihr Idioten, in Reihen aufstellen, abzählen, aber flott! – Das Scharren der tausend hölzernen Latschen, schrille Pfiffe, brutale Rufe irgendwo im Wald. Wir hörten niemanden klagen. Wer nicht mehr konnte, ließ sich fallen. Nur ein Wort pflanzte sich weiter von Reihe zu Reihe: Das ist die Hölle, dos Gehennem, c’est l’enfer!“
In der Nacht vom 10. zum 11. April 1945 besetzten amerikanische Einheiten Crawinkel. Die beiden angehängten Fotos sind bisher leider die einzig bekannten Fotos, die im Häftlingslager C gemacht wurden. Abgebildet ist einmal eine Verladehalle an einer Straße mit einem toten Häftling im Vordergrund. Amerikanische Truppen fotografierten am 12. April 1945 in der Muna an diesem Tag die brennenden Baracken, die laut Bildbeschriftung aus Rache von Zwangsarbeitern angezündet wurden. Bildunterschrift im Original: „In retalitation for being kept prisoners so long the inmates of this slave labor concentration camp set fire to it when the Germans retreated before the advancing 3rd US Army near Ohrdruf, Germany.“
Seit dem 1. April stand der Waffenstillstandswaggon direkt im Bahnhofsbereich in einem Versteck geschützt unter Bäumen und wurde streng bewacht. Alfred Ballenberger aus Crawinkel war damals 16 Jahre alt und sah ihn dort stehen. Er erinnerte sich, dass der Bahnhof damals Umschlagplatz für die Baustelle Jonastal war und die vielen Waggons mit Baumaterialien, die täglich eintrafen, nicht mehr aufnehmen konnte. Alfred schnappte beim Eisenbahner Gustav Erich ein Gespräch auf, als er bei dessen Sohn zu Besuch war. Er teilte seiner Frau mit, dass der Waggon von Compiègne in Crawinkel erwartet wird. Den Jungen war aus dem Schulunterricht sofort klar, um welchen Waggon es sich handeln musste.
Es wird bisher immer wieder spekuliert, dass eine gezielte Zerstörung beziehungsweise Sprengung des Waggons durch ein deutsches Spezialkommando erfolgte. Dies ist aufgrund des Zeitpunktes und des späteren Fundzustandes eigentlich ausgeschlossen. Deutsche Truppen waren zu diesem Zeitpunkt schon weit entfernt. Bis zur Zerstörung des zuletzt unbewachten Waggons wurde er mehrfach von Zeitzeugen besichtigt und es wurden Zwangsarbeiter in seiner Nähe beobachtet. In diesen Tagen begannen vermutlich die ersten Plünderungen des Waggons.
Der Waffenstillstandswaggon wurde im Wald zwischen Crawinkel und Ohrdruf in der Nähe des geplanten Führerhauptquartiers in Thüringen zu großen Teilen durch ein Feuer zerstört. Zeitzeugen und Sachzeugnisse haben diese Tatsache bestätigt. Nach ungenauen Angaben war Alfred Ballenberger am 11. oder 12. April wieder mit weiteren Jugendlichen unterwegs auf der Suche nach Gegenständen, die der Krieg hinterlassen hatte - hauptsächlich auf der Suche nach Nahrungsmitteln. Etwa einen Kilometer von Crawinkel entfernt stießen die Jungen auf den „schwelenden“ Eisenbahnwaggon. Mit großem Herzklopfen gingen sie zügig durch den Waggon aus Angst erwischt zu werden. „Hier und da glimmten einige Sitze“, erinnerte er sich, der Rest sei verwüstet gewesen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass hier die gleichen Zwangsarbeiter am selben Tag Feuer legten wie in der Muna. Der Waffenstillstandswaggon stand nur wenige 100 Meter entfernt vom Aufnahmestandort der Fotos. Arno Töpfer aus Ohrdruf war noch kurz zuvor im Abteil, ebenfalls auf der Suche nach Essbarem. „Der Wagen machte einen guten Eindruck, Fenster und Türen waren offen.“ Er erinnere sich noch an Sessel und Stühle, die um einen großen Tisch herumstanden. „Auf dem Tisch war eine Glasplatte und darunter Schriftstücke in ausländischer Schrift.“ Den Schriftzug „Keitel“ habe er erkannt. Auch von den blauen und roten Vorhängen und Tischdecken weiß er noch. Allerdings, so Töpfer, hätten Schnaps- und Bierflaschen sowie Essenreste umher gelegen: „Darin wurde gefeiert!“ Kurz darauf hörte er „ausländische“ Stimmen und sah Menschen in blauer Arbeitskleidung mit der Aufschrift „Ost“. „Es könnte Russisch gewesen sein. Die Männer haben mich rausgeschmissen und davongejagt. Anschließend gingen sie mit großem Gegröle in den Wagen und am Abend sahen wir die Flammen im Wald.“
Im Krieg waren neben KZ-Häftlingen auch viele Fremdarbeiter zur Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben in der Region insbesondere in Gotha eingesetzt. Nach der Besetzung Thüringens durch die amerikanischen Einheiten nutzten sie ihre Freiheit und traten teilweise auf eigene Faust den Heimweg an. Sie plünderten ebenfalls und nahmen sich, was sie brauchten. Den Waggon wollten sie gegeben falls nicht den Deutschen überlassen und zündeten ihn bewusst aus Vergeltung oder durch Unachtsamkeit mit offenem Feuer an. Zuvor nutzten sie unbewusst und zum letzten Mal den bekanntesten Speisewagen als Unterschlupf.
Nach dem Brand wurde der Waggon weiter durch die Einwohner der umliegenden Orte nach allem Brauchbaren durchsucht und demontiert. Kupferblech vom Dach, Bronzebuchstaben der Beschriftung inklusive CIWL Emblem, Vorhänge, Möbel und Holz - nur das lauffähige Fahrgestell blieb am Ende übrig. Im Herbst 1945 schleppten es Eisenbahner zum Bahnhof Gotha. Auch durch die Fahrtauglichkeit der Waggonreste ist eine Sprengung ausgeschlossen. In Gotha ging der Zusammenhang zum Waffenstillstandswaggon verloren. Ende der 40er Jahre wurde das Fahrgestell im Reichsbahn Ausbesserungswerk Gotha zum Werkswagen umgebaut. Anfang der 70er Jahre wurde der Waggonunterbau für das Weichenwerk Gotha für den innerbetrieblichen Verkehr umgebaut. „Der alte Franzose“ beziehungsweise der Werkswagen 17 wurde dort liebevoll auch „Kanapee“ genannt. 1986 Jahre wurde der Werkswagen dort nach Bruch eines Längsträgers verschrottet. Dies war das unspektakuläre Ende des wohl berühmtesten Eisenbahnwaggons der Welt.
Klaus-Peter Schambach
Quelle: Bücher „Tatort Jonastal“ und „Geheime Fahrt ins Vierte Reich“