
Der endlose Todesmarsch von S III heute vor 74 Jahren – Der 11. April 1945 ist der Tag der Befreiung der im Konzentrationslager Buchenwald verbliebenen 21.000 Häftlinge. Am gleichen Tag, als Crawinkel vollständig besetzt wurde, erreichten US-amerikanische Truppen das Stammlager bei Weimar. Die Widerstandsgruppe im Lager bemühte sich bis zum Schluss, die vollständige Evakuierung zu verzögern, um möglichst vielen Häftlingen die Befreiung durch die Amerikaner zu ermöglichen. Etwa 47.500 Menschen waren am 6. April 1945 im Stammlager inhaftiert. Täglich kamen neue Marschkommandos mit entkräfteten Häftlingen der Außenlager hinzu. Ihre Zahl wird auf zusätzliche 13.500 Häftlinge geschätzt. Diese Häftlinge gerieten wiederum auch in die Evakuierung des Hauptlagers. Vom 7. bis zum 10. April 1945 wurden auf etwa 60 Routen 40.000 Häftlinge vom KZ Buchenwald und seiner Außenlager in Richtung der KZs Dachau, Flossenbürg und Theresienstadt verschleppt. Die zusätzlichen Strapazen und Entbehrungen durch weitere Todesmärsche und „Evakuierungszüge“ überlebten zwischen 12.000 und 15.000 Menschen nicht. Genauere Angaben sind auch heute nicht möglich.
Die schrecklichen Kriegsendphasenverbrechen an den S III Häftlingen gingen daher über den 11. April hinaus. S III war der Deckname für das Bauvorhaben im Jonastal sowie für alle Häftlingslager in Ohrdruf, Crawinkel und Espenfeld. Von einer Befreiung von S III kann man im engeren Sinn nicht sprechen. Die Lager waren vollständig geräumt, bevor amerikanische Einheiten eintrafen. Nur wenige Häftlinge konnten sich verstecken oder fliehen. Nur ein Teil der Überlebenden wurde in Buchenwald befreit, für den dann ebenfalls der weitere Überlebenskampf erst richtig begann inklusive der Integration in ein normales, menschenwürdiges Leben.
Nach vorliegenden Zeugenaussagen wurde am 3. April 1945 überstürzt zuerst mit der Auflösung des Ohrdrufer Nordlagers begonnen. Die weiteren Lager folgten Tage später. Eine zusammenhängende Übersicht der Todesmärsche in der Region ist schwierig, da sich auch einige Zeugenaussagen aus der Bevölkerung wiedersprechen. Wissen muss man auch, dass schon vor dem 3. April weitere Außenkommandos des KZ Buchenwald zum Beispiel aus dem Bereich Schmalkalden evakuiert wurden. So wurden zum Beispiel auch die Häftlinge der U-Verlagerungsprojekte „Renntier“ und „Kalb“ durch Ohrdruf und Crawinkel getrieben, die ab dem 28. März zu Fuß in Richtung Buchenwald unterwegs waren. Viele dieser Häftlinge waren bereits derart geschwächt, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Des Weiteren scheint eine Kolonne aus Abteroda über Schmalkalden durch Crawinkel gezogen zu sein von einem Frauen-Außenlager der BMW-Werke. Weitere Marschkolonnen aus Springen, Merkers und Bad Salzungen kommen in Frage, die ebenfalls Zeitzeugen aufgefallen sein könnten. Es war nicht offensichtlich, welche Häftlinge aus welchem Lager Thüringens hierhergetrieben wurden.
Den Überlebenden S III Häftling Wiktor Wyscheslawskij aus Russland konnte ich 2005 und 2010 persönlich treffen und befragen. Er sagte aus, dass die Häftlinge von S III unterernährt und erschöpft nach Buchenwald gejagt wurden. Wer zurück blieb wurde erschossen. Die letzten Kilometer ging der 17jährige mit zwei Stöcken. Er war sehr krank und hatte auf dem rechten Bein ein großes Geschwür, verursacht durch die zu engen Holzpantoffeln. Er überlebte den Todesmarsch nur, weil ihm deutsche Kameraden in Buchenwald halfen. Einer hieß Hermann Brill, aufgewachsen in Gräfenroda, später Abgeordneter des Reichstags, nach dem Krieg erster Regierungspräsident von Thüringen während der amerikanischen Besetzung. Wie Wiktor überlebte, konnte er selbst nicht mehr genau sagen.
Die S III Häftlinge wurden hauptsächlich auf 3 unterschiedlichen Strecken nach Buchenwald getrieben:
1. Ohrdruf – Crawinkel – Gräfenroda - Plaue – Stadtilm – Kranichfeld – Bad Berka – Buchenwald.
2. Crawinkel – Espenfeld – Siegelbach – Nahwinden – Kranichfeld – Tonndorf – Buchenwald.
3. Espenfeld – Jonastal – Arnstadt – Stadtilm - Nahwinden – Kranichfeld – Tonndorf – Buchenwald.
Im Durchschnitt betrug die Entfernung nach Buchenwald 85 Kilometer und die Marschdauer mindestens 3 bis 4 Tage. In Buchenwald wurde die Ankunft von 8.989 Häftlingen von S III dokumentiert. Für viele Häftlinge wurde dieses Martyrium zwangsläufig zum Todesmarsch. Aktuell sind die Grabstellen für rund 300 Opfer entlang der Routen bekannt. Weitergehen oder vor Erschöpfung umfallen und durch eine Kugel oder einen Knüppel sterben, das waren die einzigen Alternativen kurz vor Kriegsende. Getrieben von Beschimpfungen, Schlägen und den Bissen der Hunde schleppten sich die Häftlinge von S III über unsere Straßen parallel zu Truppentransporten der zurückweichenden Verteidiger. Nach den Unterlagen der Volkspolizei im Kreis Arnstadt wurden noch sieben Jahre später, am 28. Januar 1952, Opfer des Todesmarsches auf der Strecke Espenfeld – Siegelbach am Straßenrand gefunden.
Einige der Marschkommandos aus S III erreichten das Stammlager in Buchenwald nicht, da unterwegs eine Umleitung erfolgte und die Front zu nahe vorrückte. Noch am 11. April, dem Tag der Befreiung von Buchenwald, passierte ein von S III kommendes Kommando von etwa 1.200 Häftlingen Kranichfeld. Der Todesmarsch ging durch Tannroda und durch das thüringische München. Der Überlebende Stefan Widanski aus Polen, war zum Zeitpunkt der Todesmärsche 19 Jahre alt. 2005 war er zu Gast in der Regelschule „Am Kienberg“ in Crawinkel. Im Januar 1945 kam er als Häftling in die Muna Crawinkel. Er war damals klein, schmächtig und hatte daher Glück, als er in die Häftlingsküche versetzt wurde und nicht zum Stollenkommando. Sein Todesmarsch von Crawinkel aus führte ihn über Buchenwald bis nach Regensburg. Sie waren mehrere Wochen zu Fuß unterwegs. Als eines der schlimmsten Erlebnisse auf dem Marsch schilderte er, wie unter den Häftlingen um Essensreste gekämpft wurde. Wenn Mithäftlinge merkten, dass einer noch Brot oder Ähnliches hatte, wurde der Betreffende oft von anderen Häftlingsgruppen überfallen, abgestochen und die Brotreste geraubt. Jeder musste eben selbst zusehen, wie er durchkam.
Die Crawinklerin Toni Böttner berichtete nach dem Krieg über ein Wiedersehen mit dem Überlebenden Josef Gelbhardt: „Dann hieß es, die Häftlinge werden evakuiert. Beim Abtransport steckte ich Gelbhardt ein großes Stück Fleisch und ein Brot in den "Futtersack". Man trieb die Häftlinge zusammen und durch die Hintergasse (in Crawinkel) ins Jonastal fort. 1947 besuchte mich Gelbhardt und erzählte: ‚Wir wurden mit 4.ooo Häftlingen aus dem Sonderlager III des KZ-Buchenwald in Crawinkel abgetrieben. Es war ein langer und schwerer Weg. Nur 7oo Häftlinge kamen davon in Regensburg/ Bayern an. Völlig erschöpft und krank. Ihnen, Toni, habe ich mein Leben zu verdanken und dem letzten Stückchen trocken Brot, das ich bis kurz vor Regensburg noch hatte. Viele von uns waren schon im Jonastal zusammengebrochen. Wir wurden unterwegs geschlagen, viele erschlagen, von den Hunden, der uns vorantreibenden SS-Posten gebissen und erschossen – in den Straßengraben geworfen.‘"
Für weitere Orte sind zusätzlich Gräber von S III Häftlingen verzeichnet, die nicht auf dem Weg nach Buchenwald liegen. Diese Massengräber stammen aus den Evakuierungstransporten von Buchenwald. Für Magdala ist verzeichnet, dass auf dem Ortsfriedhof ein Gemeinschaftsgrab mit Gedenkstein an sechs unbekannte Häftlinge eines Todesmarsches vom Außenlager Ohrdruf S III erinnert, die im Frühjahr 1945 von SS-Männern ermordet wurden. Ein ähnliches Gedenken für fünf gleichfalls unbekannte und ermordete Häftlinge wurde auf dem Friedhof des Ortsteils Göttern errichtet. In Ottendorf steht ein Gedenkstein auf dem Friedhof. Er erinnert an zwei ermordete KZ-Häftlinge, die bei einem Todesmarsch vom KZ-Außenkommando Ohrdruf in Richtung KZ Flossenbürg von der SS im April 1945 durch den Ort getrieben wurden. In Remda-Teichel wurden 14 KZ-Häftlinge bzw. Kriegsgefangene begraben, die 1945 auf tragische Weise Opfer eines US-amerikanischen Tieffliegerangriffs wurden. In einer Gedenkanlage auf dem Neuen Friedhof von Sundremda wird an vier KZ-Häftlinge aus Polen erinnert, die von SS-Männern ermordet wurden, als eine Todesmarsch-Kolonne aus dem KZ-Außenkommando Ohrdruf den Ort passierte. Ebenfalls am 11. April 1945 wurde einer der letzten Transportzüge mit Häftlingen aus dem KZ Buchenwald auf dem Bahnhof von Großschwabhausen von US-Flugzeugen beschossen. 5 Häftlinge wurden Opfer des Angriffes und wurden auf dem Ortsfriedhof bestattet.
Die Zugtransporte aus Buchenwald erreichten das KZ Dachau zu einer Zeit, als dieses Lager ebenfalls evakuiert wurde. Häftlinge, die eine dringende medizinische Versorgung benötigt hätten, wurden sich selbst überlassen. Die Toten stapelten sich in den Waggons und boten einen grauenhaften Anblick, als die amerikanischen Einheiten Dachau erreichten. Am 27. April 1945 traf in Dachau einer dieser Gefangenentransporte aus Buchenwald ein. Von ursprünglich 4.480 Häftlingen im Zug erreichten vermutlich nur 800 Überlebende das KZ Dachau. Die Fahrzeit des Zuges war am 7. April mit 24 Stunden bemessen. Dem entsprechend waren die Nahrungsportionen für die Häftlinge bemessen. Eine Schicht Kohlenruß am Boden wies darauf hin, dass in den Wagen zuvor Kohle transportiert worden war. Ein Teil der Häftlinge kam bereits schon erschöpft aus dem Außenkommando Ohrdruf in Buchenwald an.
Die reale Fahrzeit des Transportes von Weimar bis Dachau betrug unvorstellbare 21 Tage. Ursprüngliches Ziel des Transports war das KZ Flossenbürg. Nur zweimal konnte der verantwortliche SS-Obersturmführer Hans Merbach erneut für Verpflegung sorgen. Am 20. April hatte der Zug einen Aufenthalt in Nammering bei Passau, weil auf der Strecke ein Wehrmachtstransport entgleist war. Pfarrer Johann Bergmann organisierte eine Lebensmittelsammlung für den 22. April. Beim Aufenthalt in Nammering wurden zirka 800 auf dem Transport verstorbene Häftlinge eingeäschert und beigesetzt. Einige Hundert davon waren in einem Steinbruch erschossen worden. Pfarrer Bergmann fragte, warum die Häftlinge erschossen worden seien. Der Transportleiter Merbach gab zur Antwort, dass sie vor Hunger wahnsinnig geworden seien und SS-Wachen angefallen hätten und sich auch gegen Zivilbevölkerung hätten wenden können. Laut Bergmann hat der Zug Nammering mit etwa 3.100 Häftlingen verlassen.
Am 29. April marschierten US-Soldaten in das KZ Dachau ein. Gegen Mittag erreichten die Amerikaner von Westen her den Eingang der SS-Garnison. Unterwegs stießen die Soldaten auf den Todeszug aus Buchenwald - 39 Waggons teilweise geschlossen, teilweise ohne Dach, beladen mit 2.300 Verhungerten oder Erschossenen im und um den Zug. Nach diesem schockierenden Erlebnis kam es bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau zu einer Vergeltungsaktion. Das Kriegsverbrechen, bei dem SS-Männer hingerichtet wurden, wurde später unter dem Begriff Dachau-Massaker bekannt.
Die Kernaussage des Schwures von Buchenwald lautet: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig“. Nach der Verlesung des Schwures von Buchenwald erhoben die Überlebenden im Stammlager ihre Arme und sprachen „Wir schwören“. Wer setzt sich nun heute, 74 Jahre nach diesen grauenhaften Ereignissen, für die weitere Erfüllung dieses Versprechens ein?
Klaus-Peter Schambach